Die byzantinischen Etymologika und ihre Erforschung
Die jahrhundertelange Tradition der griechisch-byzantinischen Lexikographie beeindruckt nicht nur hinsichtlich ihrer handschriftlichen Überlieferung, sondern ebenso durch das von ihr erfasste literarische und sprachwissenschaftliche Erbe der griechischen Kultur. In der byzantinischen Welt waren Sammlungen enzyklopädischen und lexikographischen Schwerpunkts essenzielle Nachschlage- und Referenzwerke sowohl für Studium und Erklärung der klassischen und christlichen Autoren der Antike als auch für die gegenwärtige literarische Produktion. Bis in die Renaissance wurden fortlaufend derartige Werke konzipiert und tradiert: Einerseits wurden antike Lexika bearbeitet, um neue Manuskripte mit einem revidierten Text zu produzieren, andererseits neue Sammlungen geschaffen, um wertvolle gelehrte Inhalte gemäß der veränderten Bedürfnissen der Nutzer in einer neuen Form zusammenzuführen. Mit jeder neuen Abschrift wurde das antike Wissen in einem fortdauernden Prozess umgeformt, verkürzt, erweitert und interpretiert.
Selbstverständlich unterscheiden sich diese Lexika stark von den Erwartungen an heutige Nachschlagewerke, denen andere wissenschaftliche Kriterien und Verwendungszwecke zugrunde liegen. In der griechisch-byzantinischen Gelehrsamkeit wurden Lexika als Gebrauchstexte wahrgenommen: vorhandenes Material wurde wortwörtlich und ohne klare Zitatgrenzen eingebunden; was einem Schreiber bzw. Nutzer nicht interessant erschien, wurde weggelassen; was seinen Bedürfnissen nach fehlte, wurde aus anderen Texten ergänzt. Mögen auch einige Zitate aus sonst nicht überlieferten klassischen Autoren und Werken in diesem Kürzungsprozess verlorengegangen sein, ist das Bewahrte dennoch von großem Wert für unser Verständnis der griechisch-byzantinischen Literatur, Gelehrsamkeit und Realien. Dabei verdient die zweifache Art von Quellen (Material aus früheren Etymologika, Lexika usw. im Gegensatz zu den zitierten literarischen Primärquellen) und die Möglichkeiten ihrer Unterscheidung bzw. Abgrenzung besondere Beachtung. Vor diesem Hintergrund sind die Inhalte sowie die Kompositions- und Tradierungsmechanismen der antiken Lexika zu erfassen, zu untersuchen und im historisch-kulturgeschichtlichen Kontext zu erläutern.
Eine umfassende Darstellung der Gelehrsamkeit in der byzantinischen Welt sowie in der europäischen Renaissance erfordert die systematische Analyse aller materiellen und textuellen Aspekte der griechischen Wörterbücher. In den bisherigen Studien zur lexikographischen Produktion stand jedoch eine rein textphilologische Perspektive im Vordergrund. Dabei blieb die kulturelle Bedeutung der lexikographischen Werke und der einzelnen Manuskripte meist gänzlich unbeachtet. Eine weitere Schwierigkeit bei der Edition griechisch-byzantinischer lexikographischer Werke ist ihre komplexe Überlieferungsgeschichte: Hier ist an die zahlreichen Handschriften, an die verschiedenen Schichten und Stufen von Überarbeitung, Beeinflussung u.v.m. zu denken. Aus diesen Gründen fehlt es noch an modernen kritischen Editionen wichtiger byzantinischer Lexika: Die meisten sind entweder überhaupt noch nicht oder nur in älteren Ausgaben ediert, die auf einzelnen, oft unzuverlässigen Handschriften basieren
Ein Beispiel dieser Praxis liefert auch das sogenannte Etymologicum Gudianum, dessen moderne Bezeichnung auf ein Manuskript zurückgeht, das sich in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel in der Sammlung, die der deutsche Gelehrte Marquard Gude (1635–1689) besaß, befindet: eine heute in zwei Bände aufgeteilte Handschrift (Codex Guelferbytanus 29/30 Gudianus Graecus), die im Jahr 1293 in Süditalien geschrieben wurde, möglicherweise in der apulischen Stadt Gallipoli. Der in ihr unter dem Titel „Etymologie“ überlieferte Text stellt eine stark überarbeitete Fassung des ursprünglich in der zweiten Hälfte des 10. Jh. verfassten Lexikons dar, welches ebenfalls hauptsächlich im süditalienischen Kulturraum, aber auch in den Kerngebieten des byzantinischen Reiches eine zentrale Rolle gespielt hat und dessen Fortwirken sich bis in die Renaissance erstreckt. Anhand der 1764 von dem Göttinger Professor Lüder Kulenkamp (1724–1794) verfassten Abschrift des Manuskripts in Wolfenbüttel wurde der Text 1818 erstmalig durch den klassischen Philologen Friedrich Wilhelm Sturz (1762–1832) publiziert. Er wählte als Titel „Etymologicum Graecae linguae Gudianum“ („Gudisches Etymologikon der griechischen Sprache“).
Dank eines sehr seltenen Glücksfalls ist im Vaticanus Barberinianus Graecus 70 aus dem Ende des 10. Jh. das ursprüngliche Exemplar in der Arbeitsfassung erhalten, in dem die verschiedenen Überarbeitungs- bzw. Erweiterungsstufen wahrnehmbar sind. Denn in diesem Manuskript ist der Haupttext systematisch und stufenweise von mehreren Schreibern auf den Rändern und in den Textzwischenräumen um gelehrte Exzerpte aus verschiedenen Vorlagen erweitert worden. Eine große Herausforderung bei der Erforschung des Textes besteht auch darin, dass mehrere Werke, die die Kompilatoren des Gudianum herangezogen haben, bisher nicht bzw. nur unzureichend ediert wurden.
Dieses Manuskript wurde am Ende des 19. Jh. vom klassischen Philologen Richard Reitzenstein (1861–1931) entdeckt und in seiner bahnbrechenden Monographie „Geschichte der griechischen Etymologika“ (1897) sowie ergänzend in dem Artikel „Etymologika“ in „Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“ (1907) ausgewertet. Spätere philologische und manuskriptologische Untersuchungen haben seine präzise Darstellung teilweise erweitert und korrigiert, wie Klaus Alpers in seinem Aufsatz „Difficult Problems in the Transmission and Interrelation of the Greek Etymologica“ kürzlich dargestellt hat.
Wie Reitzenstein feststellen konnte, diente der Barberinianus später als Vorlage für zahlreiche Abschriften. Ein Großteil der Manuskripte, wie der genannte Wolfenbütteler Kodex, lässt sich in Süditalien, besonders in der Terra d’Otranto verorten. Alle ca. dreißig noch erhaltenen Handschriften stammen vom Barberinianus ab und lassen sich in vier Familien einordnen. Die genauen stemmatischen Beziehungen zwischen den vier Familien und ihren einzelnen Manuskripten sind dennoch bisher nie ermittelt worden. Dies ist aber besonders wichtig, denn die Abschriften sind nicht nur kulturgeschichtlich von Bedeutung, da sie einen Wissenstransfer im griechisch-italienischen Kulturraum bezeugen, sondern auch für die Herstellung des Textes des Etymologicum Gudianum essenziell, zumal heute ca. fünfzig Blätter des Barberinianus verloren sind. Darüber hinaus wurde der Text des Etymologicum Gudianum in jüngere Etymologika eingearbeitet; über welche Version(en) des Gudianum die Verfasser der jüngeren Etymologika verfügten, ist ebenfalls noch zu erforschen. Der Einfluss dieses Lexikons erstreckt sich sowohl in das lateinische Mittelalter als auch über die Renaissance hinaus. Der englische Gelehrte Robert Grosseteste (1175–1253) verfügte über ein Manuskript des Gudianum, dessen Text er zum Teil ins Lateinische übertrug. Ein noch nicht identifiziertes Manuskript des Gudianum wurde u.a. von dem italienischen Benediktiner Guarinus Phavorinus, einem Schüler der Humanisten Angelo Poliziano und Janus Laskaris, für sein bedeutendes griechisches Wörterbuch „Magnum ac perutile dictionarium“ (Rom 1523) herangezogen.
Eine neuere Edition des gesamten Etymologicum Gudianum wurde Anfang des 20. Jh. von Edoardo Luigi De Stefani (1869–1921) in Angriff genommen. Aufgrund von De Stefanis frühem Tod blieb seine Ausgabe jedoch unvollendet: Es konnten nur die ersten zwei Bände erscheinen, die zusammen ungefähr ein Drittel des gesamten Texts umfassen; in jeden der beiden hatte der Herausgeber etwa zehn Jahre investiert (Leipzig 1909: Buchstaben Alpha und Anfang von Beta; Leipzig 1920: Buchstaben Beta–Epsilon und Anfang von Zeta). Auch seine erst für den letzten Band vorgesehenen Prolegomena zur Überlieferungsgeschichte und zu den Quellen dieses wichtigen Lexikons sowie zu den von ihm angelegten Editionskriterien sind infolgedessen nie verfasst worden. Seither ist die vollständige Herausgabe dieses Werks in einer kritischen Edition nach heutigen Standards ein akutes Desiderat.